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Wo ist der Anstand? [1]

Alexander Wolber, zur Ermordung von Charlie Kirk

12.09.2025

Vor zwei Tagen wurde der rechtskonservative Trump-Unterstützer Charlie Kirk bei einer Veranstaltung auf dem Campus der Utah Valley University im US-Bundesstaat Utah auf offener Bühne erschossen. Häufige Reaktionen: tosender Beifall, Hetze, Spott.

Charlie Kirk hat sich vor allem unter jungen, konservativen, christlichen und rechtsnationalistischen US-amerikanischen Bürgern einen Namen gemacht, weshalb er zu einem engen Wegbegleiter Donald Trumps wurde und dessen Wahlkampf nachhaltig prägte. Er vertrat anti-woke, trans- und fremdenfeindliche Positionen, lehnte Schwangerschaftsabbrüche ab, machte Stimmung gegen "linke" Politik und trat für ein christlich-konservatives Lebensmodell mit klassischer Rollenverteilung ein. Kirk besuchte in der Vergangenheit gerne öffentliche Veranstaltungen, um mit seinen Kritikern medienwirksam zu diskutieren, wobei er ihnen zwar oft nicht inhaltlich, aber zumeist rhetorisch überlegen war. Während einer solchen Veranstaltung an der Utah Valley University wurde er am Mittwoch auf offener Bühne vor den Augen aller mit einer Schusswaffe tödlich am Hals verwundet [2].

Die Reaktionen

Seither überschlagen sich die Kommentarspalten in den Sozialen Medien – nur leider nicht so, wie es der Anstand gebieten würde. Es offenbart sich bei einigen ein Hang zum Tribalismus, der durch verbale Aufrüstung offen ausgelebt wird. So gibt es zahlreiche Kommentare, die den Mord an Kirk zu Gewaltaufrufen gegen "Linke" missbrauchen und in Kriegsrhetorik abdriften ("I'm ready for civil war" oder "The only way this ends is the complete annihilation of Democrat party"). Trump gibt der "radikalen Linken" gar die Schuld [3] für den inländischen Terrorismus.

Auf der anderen Seite gibt es zahlreiche Postings, die den Mord gutheißen oder ihn relativieren, da es ja den "Richtigen" getroffen habe. So sind Sätze wie diese zu lesen: "There is no place for genocide propaganda, fascism and white supremacy. (…) Nazi lives don't matter" oder "Charlie Kirk war Abschaum". Der MSNBC-Kommentator Matthew Dowd gab Kirk nach dem Attentat sogar eine Teilschuld [4] an seinem Tod: "Man kann diese schlimmen Gedanken nicht haben, diese schlimmen Worte sagen, und dann erwarten, dass keine schlimmen Taten folgen. Leider ist das unsere Realität." In einem Video, das den Anschlag auf Kirk zeigt, sieht man unmittelbar nach dem tödlichen Schuss einen Mann, der jubelnd die Fäuste zum Himmel reckt.

Wieder andere reagieren zynisch. So teilten manche einen alten Post von Kirk, in dem er schrieb: "Guns save lives", und kombinierten ihn mit einem Screenshot von dem Moment, als Kirk am Hals getroffen wurde. Der Satiriker Sebastian Hotz (bekannt unter dem Pseudonym "El Hotzo") postete auf X ein Bild mit dem Schimpansen "Charly" aus der Familienserie "Unser Charly" und kommentierte "RIP". Ein anderer X-User resümierte äußerst treffend: "Mit Charlie Kirk wurde offenbar auch der Anstand ermordet".

Ein Appell die Menschlichkeit

Inmitten dieser "Shitpostings" finden sich allerdings auch versöhnliche Kommentare, die sich nicht dem bloßen Tribalismus ergeben, sondern auf zugrunde liegende Werte der Offenen Gesellschaft und Empathie verweisen. So weisen manche darauf hin, dass das eigentlich Empörende nicht die Gesinnung von Charlie Kirk sei, sondern die Tatsache, dass ein Mensch getötet wurde, bloß weil er eine andere Meinung vertrete. Andere wünschen den Hinterbliebenen viel Kraft, auch wenn sie die politische Meinung ihres Angehörigen nicht geteilt hätten.

Charlie Kirk war eine streitbare Persönlichkeit, die Ansichten vertrat, die mit den Werten der Offenen Gesellschaft und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) inkompatibel waren. Das rechtfertigte zwar den unermüdlichen Einsatz gegen seine reaktionäre Rhetorik, jedoch nicht seine Beseitigung mittels Waffengewalt. Auch wenn es paradox klingen mag: Eine Person, die die zentralen Artikel der AEMR ablehnt, verfügt jedoch gleichzeitig über ebenjene. Und sein Ableben wiederum rechtfertigt schon gar nicht sich gegenüber anderen, vollends Unbeteiligten, hetzerisch zu verhalten. Menschen sind zunächst einmal Menschen und dann haben sie unterschiedliche Positionen – der Rest ist Widerstreit. Dass ich mich einmal genötigt sehe, diese Sätze so explizit zu formulieren, hätte ich vorgestern noch nicht gedacht.

Kirk hinterlässt seine Frau, eine dreijährige Tochter und einen einjährigen Sohn. Rund 3.000 Besucher der Veranstaltung mussten die Hinrichtung Kirks live mitansehen und um ihr eigenes Leben fürchten. Einige von ihnen werden Traumafolgestörungen erleiden. Die Zahl der Menschen, die unspezifische psychische und soziale Probleme entwickeln werden, weil sie sich die verstörenden Videoaufnahmen in den Sozialen Medien anschauen, ist nicht bezifferbar. Es geht jetzt nicht um politische Differenzen und Schuldzuweisungen, sondern um Zusammenhalt. Margot Friedländer sagt [5]: "Schaut nicht auf das, was euch trennt. Schaut auf das, was euch verbindet. Seid Menschen, seid vernünftig".


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Links
[1] https://www.gbs-bodensee.de/meldung/wo-ist-der-anstand [2] https://www.tagesschau.de/ausland/amerika/us-aktivist-kirk-gestorben-100.html [3] https://www.dw.com/de/trump-charlie-kirk-ist-ein-m%C3%A4rtyrer-der-wahrheit/a-73956270 [4] https://www.welt.de/politik/ausland/article68c2610be94fcb47b9cd46db/Charlie-Kirk-MSNBC-feuert-Kommentator-nach-Aussagen-ueber-Attentat.html [5] https://zeitlupe.ch/panorama/gesellschaft/seid-menschen-das-plaedoyer-von-margot-friedlaender/