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Don't feed the Lion! - Warum die Grünen und die Linke endlich aufhören sollten, Politik für die AfD zu betreiben

Von Alexander Wolber

Anfang 2025 gab es ähnliche Protestaktionen wie jetzt. Auf dem Bild: Düsseldorf

Eine Äußerung von Friedrich Merz zum Thema "Migration" zog kürzlich bei einem Antrittsbesuch in Potsdam große Wellen der Empörung nach sich. Die Grünen und die Linke reagierten mit Diskriminierungs- und Rassismusunterstellungen. Eine spezifische Analyse dieser Reaktionen offenbart allerdings eines: davon profitieren wird die AfD.

Stellen Sie sich einmal vor, zu Ihnen kommt ein hungriger kleiner Babylöwe. Sie bemerken schnell, dass er von Ihnen gefüttert werden möchte, dabei faucht er etwas und zeigt Ihnen seine kleinen Krällchen. Zum Glück fällt Ihnen sofort ein, dass Sie noch ein Steak im Kühlschrank haben, das Sie dem kleinen Löwen verfüttern könnten. Sie möchten das eigentlich nicht, da Sie das Steak heute Abend gerne selbst essen wollten. Allerdings finden Sie den Babylöwen auch ein wenig unangenehm, weshalb Sie froh sind, wenn er wieder weg ist. Sie entscheiden sich schließlich, ihn nun doch zu füttern. "Puh, noch mal gut gegangen!" denken Sie sich, der Babylöwe zieht zufrieden von dannen. Nach einer Weile besucht er Sie erneut; Ihnen fällt auf, dass er schon ein ganzes Stück gewachsen ist. Erneut bemerken Sie, dass er hungrig aussieht, aber diesmal bleiben Sie konsequent und füttern ihn nicht. Das haben Sie sich zumindest fest vorgenommen! Er faucht Sie an und zeigt Ihnen wieder seine Krallen. Sie ringen mit sich, Sie möchten dieses Mal Ihre leckeren Filetstücke für sich und Ihre Freunde und Familie aufsparen, die heute Abend zu Besuch kommen. Aber den Löwen die ganze Zeit fauchen zu hören und seine Krallen sehen zu müssen, ist für Sie dann doch etwas beängstigend. "Also gut", denken Sie sich und füttern den Löwen erneut und wieder zieht er zufrieden von dannen.

Auch wenn der Löwe etwas plump aussieht, er ist nicht dumm. Er hat nämlich gelernt, dass er bekommt was er will, wenn er Sie anfaucht und Ihnen seine Krallen zeigt. Der Löwe wird immer wieder kommen, da er sich daran erinnert, bei Ihnen gefüttert zu werden. Nach jedem Mal wächst und gedeiht er. Sein Fauchen wird zunehmend fester und lauter, seine Krallen länger und schärfer und je größer er wird, desto schwieriger wird es für Sie, sich ihm zu widersetzen.

Die Metapher vom "hungrigen kleinen Löwen" wird für gewöhnlich im psychotherapeutischen Kontext angewendet. Dem Patienten soll damit auf spielerische Weise verständlich gemacht werden, dass manche Reaktionen (z.B. "Fütterung") auf ein aufkommendes Problem (z.B. "Löwe") zwar eine kurzfristige Erleichterung (z.B. "Löwe geht weg") zur Folge hat, jedoch langfristig das Problem verstärken können (z.B. "Löwe kommt wieder", "Löwe wächst"). Diese Dynamik aus Fütterung und Erleichterung ist im übertragenen Sinne genau der Prozess, mit dem die Grünen und die Linke die AfD seit Jahren mit Wählerstimmen versorgen. Sie denken, das ist übertrieben? Dann gebe ich Ihnen hierzu gerne ein aktuelles Beispiel.

Die Causa Merz

Am vergangenen Dienstag absolvierte Bundeskanzler Friedrich Merz seinen Antrittsbesuch in Potsdam. Nach einer gemeinsamen Kabinettssitzung mit dem Brandenburgischen Ministerpräsidenten Dietmar Woidke (SPD) erfolgte eine aufgrund von Termindruck gestraffte, circa 15-minütige Pressekonferenz (PK) in der Staatskanzlei. Dabei wurde eine Vielzahl unterschiedlicher Themen angesprochen. In den verbleibenden vier Minuten der PK (ab ca. 11:15 min.) beantwortete der Kanzler schließlich noch eine letzte Frage eines Journalisten: "Was haben Sie vor, um dieses Problem [das Erstarken der AfD, Anm. d. A.] zu lösen?". Merz sieht als zentrales Problem "eine große Unzufriedenheit mit den Mechanismen und mit den Kompromissnotwendigkeiten, die wir in einer Demokratie nun mal haben" und wolle zunächst dafür werben, "dass eine Demokratie von Kompromissen lebt". Zudem möchte er zeigen, "dass auch mit Kompromissen gute Lösungen möglich sind". Er führt aus, dass mit einer anderen Migrationspolitik die AfD schon früher hätte effektiver bekämpft werden können. Merz sehe es als notwendig an, sich weiter mit dem Linkspopulismus und insbesondere mit dem Rechtspopulismus, der in "vielen Demokratien der Welt große Probleme" mache, auseinanderzusetzen. Neben der Migrationspolitik gebe es noch weitere Themen wie "Infrastruktur und Pünktlichkeit", die angegangen werden müssen. Inmitten dieser Ausführungen sagte der Bundeskanzler dann die Worte, die ihn noch verfolgen sollten: "Bei der Migration sind wir sehr weit. Wir haben in dieser Bundesregierung die Zahlen August 24, August 25 im Vergleich um 60 Prozent nach unten gebracht, aber wir haben natürlich immer im Stadtbild noch dieses Problem und deswegen ist der Bundesinnenminister ja auch dabei jetzt in sehr großem Umfang auch Rückführungen zu ermöglichen und durchzuführen."

Nun gibt es sicherlich an der Migrations- und Asylpolitik von Merz (was er im Übrigen nicht differenziert) so manches zu kritisieren und seine Formulierungen zum "Stadtbild" sind zudem alles andere als präzise. Sie sind vielmehr unterkomplex, wenn nicht sogar unangemessen. Der Strohmann der allerdings von den Grünen, der Linkspartei und einigen NGOs gezogen wird, nachdem Merz rassistisch und diskriminierend sei, ist unter Berücksichtigung des Kontextes seiner Aussagen einfach nicht haltbar. Ihm wird bei allem Interpretationsspielraum die denkbar negativste Intention unterstellt. Das Schlimmste daran: Es dient mal wieder der AfD.

Grüner und Linker Populismus

Während sich bei der PK niemand an den Äußerungen von Merz störte – mutmaßlich da allen der Kontext offensichtlich erschien – wurde die Satzsequenz um das "Stadtbild" durch Aktivisten und Politiker der Grünen und Linken entkontextualisiert, negativ geframed, verabsolutiert und empörialisiert.

In einem Offenen Brief von über 30 hochrangigen Abgeordneten der Grünen-Fraktion wird Merz' Aussage als "rassistisch" und "diskriminierend" bezeichnet, "die Menschen das Gefühl" gebe "nie wirklich dazu zu gehören". Der Slippery-Slope folgt auf den Punkt: "Eine solche Sprache führt zu Gewalt". Die Insinuierungen enden an dieser Stelle nicht. Merz befeuere zudem "rechtsextreme Erzählungen von Remigration und Vertreibung" und nähere sich damit sprachlich "dem Rechtsextremismus an".

Auf ihrem Instagram-Kanal blies die Vorsitzende der Fraktion die Linke im Bundestag Heidi Reichinnek sichtlich erregt ins gleiche Horn und sprach etwa von einem "menschenverachtenden Weltbild" und Rassismus. Sie unterstellt, dass Menschen mit Migrationshintergrund aufgrund ihres Aussehens für Merz nicht ins Stadtbild gehören würden, der "Zug" ja sowieso schon "die ganze Zeit nach scharf rechts" fahre und dass die Union unter Merz zur "Vorfeldorganisation von rechtsaußen" werden würde. Zudem spricht sie der Union ab eine demokratische Partei zu sein, was ihrer Geste (air quotes) bei dem Wort "demokratisch" zu entnehmen ist.

Dass noch niemand berichtet hat, bei der PK ein Hakenkreuz aus dem Jackett des Bundeskanzlers hervorblitzen gesehen zu haben, ist an dieser Stelle auch alles, was noch fehlt.

Sozialpsychologische Grundlagen zu Gruppendynamiken

Doch warum sind die Reaktionen der beiden Parteien nun so problematisch? Um das besser nachvollziehen zu können, setzen wir uns an dieser Stelle des Textes eine sozialpsychologische Brille auf und beschäftigen uns mit ein paar Grundlagen:

Gruppenwahl

Bis man sich überhaupt einer Gruppe oder Meinung anschließt, muss zunächst einiges passieren. Einflussfaktoren darauf gibt es zahlreich, die hier nicht alle ausreichend berücksichtigt werden können. Erziehung, personale Interessen, Bildung, soziales Netz, zwischenmenschliche Sympathie, Wohlbefinden und sozioökonomische Verhältnisse sind nur einige wenige Beispiele, die Gruppenzugehörigkeit beeinflussen können. Nun ist jeder Mensch Teil einer Vielzahl von unterschiedlichen Gruppen, die seine sogenannte "soziale Identität" repräsentieren. Hierbei gibt es Gruppen, die für einen salienter (bedeutsamer) sind als andere. Bei dem einen ist das der Fußballverein, bei der anderen die Universität und bei manchen eben das politische Lager.

Orientierungsprozess innerhalb einer Gruppe

Die Theorie der informellen sozialen Kommunikation von Festinger beschreibt, dass innerhalb einer Gruppe ein Homogenitätsdruck entsteht, in der Gruppenmitglieder zur Übernahme derselben oder ähnlichen Meinung der anderen tendieren. Eine gemeinsame soziale Realität und Interpretation der Umwelt entsteht, was den Zusammenhalt innerhalb einer Gruppe festigt. Innerhalb einer Gruppe suchen Personen dann nach anderen Gruppenmitgliedern, die ähnliche Meinungen vertreten wie man selbst (Gefahr für Bestätigungsfehler) und meiden tendenziell Gruppenmitglieder, die zu stark von der eigenen Meinung abweichen. Das kann sich dann bis hin zu Feindseligkeiten und Abwertungen entwickeln. Der Homogenitätsdruck steigt mit der zugeschriebenen Wichtigkeit einer Meinung und Bedeutung der eigenen Gruppe. Diese sozialen Vergleiche innerhalb einer Gruppe wurden ebenfalls von Festinger in der Theorie der sozialen Vergleichsprozesse beschrieben.

Konfliktdynamiken zwischen zwei Gruppen

Diese beiden vorgestellten Theorien beschreiben grob die Dynamiken, die innerhalb einer Gruppe entstehen können. Nun muss noch dargestellt werden, wie sich die eigene Gruppe zu einer relevanten anderen Gruppe verhalten kann. Die Theorie der Sozialen Identität von Tajfel und Turner besagt grundlegend, dass Menschen nach einer positiven Selbsteinschätzung streben. Da Gruppenzugehörigkeiten Teil ihres Selbst sind, spielen sie daher eine wichtige Rolle. Eine Möglichkeit zu schauen, ob die eigene Gruppe (Ingroup) "positiv" bewertet werden kann, ist sie mit einer anderen relevanten Gruppe (Outgroup) zu vergleichen. In der Regel ist das auch keine große Sache und genuiner Bestandteil unseres Alltags. Zu handfesten Feindseligkeiten kann dieser Vergleich allerdings führen, wenn man sich selbst mit seiner Ingroup stark identifiziert und gleichzeitig mit einer Outgroup in Konkurrenz um eine Ressource gerät, die nur auf Kosten der Outgroup "gewonnen" werden kann. Dieser Gegenstand ist zentraler Bestandteil der Realistic Conflict Theory (RCT) nach Sherif. Ein klassisches Beispiel dafür sind die blutigen Ausschreitungen der verfeindeten Fans im Fußball Pokalspiel zwischen West Brom und Wolverhampton, die sich seit Jahren immer wieder gegenseitig angehen. Haben sich zwischen Gruppen Fronten gebildet, neigen deren Mitglieder zur Meinungspolarisation, das heißt, dass sich die Mitglieder der jeweiligen Ingroups von den Outgroups zunehmend distanzieren und sich die Meinungen über die jeweiligen Outgroups radikalisieren. Das verschärft und nährt dann den Konflikt.

Wie die Grünen und die Linke die AfD stärken

Die Grünen und die Linke haben sich (ebenso wie die AfD) in Bezug auf die cultural war-Themen in den letzten Jahren radikalisiert, die Meinungskorridore des Sagbaren sind spürbar enger geworden. Zuweilen entsteht der Eindruck, dass die Verwendung eines "falschen" Wortes einen sofort verdächtig macht, der "falschen" Seite anzugehören. Aussagen werden in Schwarz-Weiß-Schemata bewertet und denkmöglichst negativ ausgelegt, ganz nach dem Motto: "Sprichst du nicht wie wir, bist du unser Feind". Die Meinungen der Grünen und der Linken sind einseitig geworden, es gibt nur noch pro Migration, alles andere wird nicht geduldet. Vorsichtigere, differenziertere und auch unreflektierte Einstellungen und Aussagen werden sofort der "bösen" Outgroup zugeschrieben. Sie werden diffamiert und entsprechend moralisch gelabelt (z.B. "Vorfeldorganisation von rechtsaußen"). Das Problem daran ist, dass das Menschen vor den Kopf stößt und persönlich angreift. Man macht sich Leute zum Feind, die eigentlich gar nicht die oppositionelle Meinung vertreten und treibt sie in die Hände derer, die man eigentlich schwächen möchte.

Die Aufmerksamkeit wurde selektiv auf ein bis zwei unbedachte Sätze des Bundeskanzlers gerichtet, entkontextualisiert und emotionalisiert. Sofort wurde auf das "menschenverachtende Weltbild" des Kanzlers geschlossen, ohne einmal auf die Idee gekommen zu sein, dass andere Gründe diese Aussagen begünstigt haben könnten (fundamentaler Attributionsfehler), wie beispielsweise der Zeitdruck während der PK, oder sich eben einfach ungeschickt artikuliert zu haben. Schließlich wurde Merz vorgeworfen, mit seinen Aussagen "rechtsextreme Erzählungen" zu befördern, wobei die Grünen und die Linken völlig vergessen zu haben scheinen, dass durch sie das Thema überhaupt erst aufgeblasen wurde. Das nennt sich Immunisierung durch Ursachenverschiebung.

Bei Personen, die nicht so empfindlich gegenüber den cultural war–Themen sind, lösen solche hochstilisierten und medial breitgetretenen Reaktionen allenfalls psychologische Reaktanz aus und lässt es wahrscheinlicher werden, dass sie sich paradoxerweise viel eher rechtspopulistischen Positionen zuwenden.

Die AfD braucht nicht mehr großartig aktiv werden, sie wächst Jahr für Jahr fast von selbst, unabhängig davon wie viele Skandale sich aneinanderreihen. Sie ist der Löwe, der seit vielen Jahren unter anderem von den Bestrebungen postmodern ausgerichteter Politik profitiert. Der AfD-Löwe ist mittlerweile sogar viel intelligenter als in der Metapher eingangs beschrieben. Er muss nicht mal mehr fauchen oder seine Krallen zeigen, um an das Steak zu kommen. Er kann einfach liegen bleiben wo er ist und abwarten, bis man ihm das Steak auf einem Silbertablett serviert. Er muss sich lediglich noch aufraffen, es zu fressen. Die Empörung über wenig empörenswerte Sachverhalte ist nicht die Lösung des Problems, sie ist das Steak für den AfD-Löwen. Mit dauernder moralischer Entrüstung und moralischer Stigmatisierung lässt sich die AfD nicht zurückdrängen, auch wenn es einen emotional erleichtern mag, sich mal wieder bewusst gemacht zu haben, dass man auf der "richtigen" Seite steht (virtue signalling).

Aufgrund des aktuellen Anlasses habe ich mich in diesem Artikel auf Handlungen der Grünen und der Linken als Fallvignette bezogen. Die grundsätzliche Kritik ist allerdings über die beiden Parteien hinaus generalisierbar.

Es bedarf dringend an Deradikalisierungsstrategien, die zu einer Diversifizierung von Meinungen in den politischen Lagern führen. Zudem darf entspannter und weniger hysterisch mit Äußerungen umgegangen werden, die nicht strikt auf Linie liegen. Gelingt das nicht, sehe ich keinen Grund, warum die AfD in Zukunft nicht noch stärker werden sollte. Also: Don't feed the Lion! Denn wer den Löwen füttert, darf sich nicht wundern, wenn er wächst.