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Ethikunterricht an Grundschulen in Baden-Württemberg

Der gbs Landesverband Baden-Württemberg fordert bekenntnisfreie Schulen und Ethikunterricht für alle

Die Meldung stammt ursprünglich von der GBS-Stuttgart.

Die Regionalgruppen der gbs in Baden-Württemberg arbeiten bei ausgewählten Projekten als gbs Landesverband Baden-Württemberg zusammen. Ein solches für Baden-Württemberg zentrales Thema ist der Ethikunterricht an den Schulen. Die Mehrheit der Grundschüler ist konfessionsfrei, ein signifikant höherer prozentualer Anteil als in der Gesamtbevölkerung. Diese Mehrheit wird von der Politik ignoriert und die Einführung des Ethikunterrichts an Grundschulen ist bis jetzt nicht konkret geplant, obwohl dies in allen Koalitionsverträgen der Landesregierungen von Baden-Württemberg seit 2011 vereinbart wurde. Die Ausweitung des Religionsunterrichts für eine vergleichsweise kleine Minderheit von Schülern, die dem muslimischen Kulturraum zugeordnet werden können treibt die Landesregierung hingegen mit bemerkenswertem Eifer voran. Die Stärkung der Religiosität scheint wichtiger als Werteunterricht für alle, auch um den Preis, die religiöse Identitätsbildung auf Kosten der Integration zu fördern.

Grafik: Werner Koch

Niemand kommt gläubig zur Welt. Die Festlegung auf ein bestimmtes religiöses Bekenntnis entsteht durch Erziehung – und genau das bezweckt der konfessionelle Religionsunterricht (RU): Der RU dient nicht der Information über Religion, sondern der Vermittlung des jeweiligen Glaubens, also der Missionierung von Kindern. Dies kostet den Staat jährlich 4 Milliarden Euro Steuergeld, wird aber inhaltlich von den Kirchen bestimmt. Öffentliche Schulen sollten jedoch keine Bekenntnisse vermitteln, sondern Erkenntnisse, Schule soll nicht vermitteln, was Schüler denken sollen, sondern ihnen beibringen, wie aufgeklärtes Denken funktioniert. Deshalb sollte der konfessionelle RU ersetzt werden, bevorzugt durch einen neutralen Werteunterricht wie "Ethik für alle" oder durch "ReligionsKUNDE". Spricht man mit Religionslehrern so bekunden diese häufig, dass sie in der Praxis eher Religionskunde- als Bekenntnisunterricht praktizieren – was dafürspricht, dies zur Norm zu machen

Religionsunterricht in der Strukturkrise

Der herkömmliche konfessionelle RU an staatlichen Schulen befindet sich in der Bundesrepublik in einer tiefen Strukturkrise. Der bekenntnisgebundene RU ist schon lange nicht mehr zeitgemäß. Siehe Artikel (Die Zeit): "Der Glaube muss raus aus den Schulen!" und "Lehren sollt ihr, nicht bekehren". Die gesellschaftliche Akzeptanz des RU ist nicht mehr vorhanden. Zunehmend wirkt sich auch aus, dass im Elternhaus die Religion keine Rolle mehr spielt.

Es ist nicht Aufgabe der Schule, die religiöse Unterweisung, die im Elternhaus zunehmend nicht mehr stattfindet, in der Schule nachzuholen.

Die Mehrheit der Schüler ist konfessionsfrei; gleichzeitig gibt es über 100 Glaubensgemeinschaften, die eigentlich auch Anspruch hätten, ihren eigenen RU zu erhalten. Das Land Baden-Württemberg hat Lehrpläne für RU für acht Bekenntnisse eingerichtet. Durch die Vielfalt der Religionen stößt der RU an öffentlichen Schulen an Grenzen, die ihn in Frage stellen. Bis jetzt versucht die Politik noch den RU zu erhalten indem zuletzt der islamische (sunnitische) RU eingeführt wurde. Das ist im Interesse der Kirchen, die den RU beibehalten wollen, jedoch nicht im Interesse der Gesellschaft. Hinzu kommt: Ein grundlegendes Ziel des RU, grundlegende Einstellungen der Schüler wie etwa Toleranz gegenüber Andersdenkenden und Nichtreligiösen zu erhöhen, wird Studien zufolge durch den RU nicht erreicht (Quelle: Herder Korrespondenz Spezial, "DAS LIEBLINGSFACH - Warum der Religionsunterricht unterschätzt wird"). Das Prinzip der Trennung von Staat und Kirche verlangt von den staatlichen Institutionen strenge Unparteilichkeit im Umgang mit Religionsgemeinschaften. Parlamente und Gerichte, Regierung und Verwaltung verletzen das Gebot der weltanschaulichen Neutralität, wenn sie eine Seite auf Kosten einer anderen privilegieren. Der Religionsunterricht an staatlichen Schulen ist eine Bevorzugung der Interessen der Kirchen gegenüber den Interessen nicht-religiöser Weltanschauungen, Schülern und Eltern.

Religionszugehörigkeit Beispiel Stuttgart – Alle Einwohner vs. Schulanfänger

Die Säkularisierung/Entkirchlichung der Bevölkerung schreitet voran und die Mitgliedschaft in den ehemaligen Großkirchen nimmt ab. Die aktuellen Mitgliederzahlen des Statistischen Amts der Stadt Stuttgart über die Religionszugehörigkeit belegen deutlich und mit steigender Tendenz, dass immer weniger Stuttgarter*innen einer der beiden großen Kirchen angehören. Nur 20,7 Prozent der Stuttgarter Bevölkerung sind Mitglied der evangelischen Kirche (Stichtag 31.12.2022), bei der katholischen Kirche sind es 20 Prozent. Nahezu 60 Prozent der Stuttgarter*innen sind aktuell konfessionsfrei oder gehören einer anderen Religion an.

Daten: Landeshauptstadt Stuttgart, Statistisches Amt    Grafik: Werner Koch

Bei den Kindern im Alter bis 6 Jahren (Schulanfänger) sind die Zahlen der Religionszugehörigkeiten signifikant geringer. Der Prozentsatz christlich getaufter Kinder ist etwa halb so hoch wie die Religionszugehörigkeit (rk und ev.) der gesamten Einwohnerschaft. Siehe Grafik a) mit der Entwicklung der Religionszugehörigkeit der Einwohner von Stuttgart und b) der Kinder in dem Alter bis 6 Jahren. In Stuttgart sind in der Altersklasse bis 6 Jahren 17,8 Prozent christlich getauft, d.h. 82,2 Prozent haben keine oder eine andere Religionszugehörigkeit. Diese Verhältnisse gelten nicht nur für Stuttgart. Anfragen in anderen Städten von Baden-Württemberg bestätigen, dass die Religionszugehörigkeit der Kinder bis 6 Jahren in etwa halb so hoch ist wie die Religionszugehörigkeit der gesamten Einwohner der jeweiligen Stadt.

Abb.: b) Religionszugehörigkeit in Stuttgart 2017-2022 – Altersklasse: 0-6 Jahre (Einschulalter
Daten: Landeshauptstadt Stuttgart, Statistisches Amt   Grafik: Werner Koch

Das macht die Einrichtung des RU immer schwieriger. Dem begegnen Kirchen und Religionslehrer durch die Einrichtung von klassenübergreifendem oder "konfessionell-kooperativem" Religionsunterricht und auch durch Werbung für einen Religionsunterricht der offen ist für Schülerinnen und Schüler anderer Religionsgemeinschaften oder Weltanschauungen sowie für konfessionslose Schülerinnen und Schüler. Allein im Bereich der Evangelischen Landeskirche in Württemberg wurden für das Schuljahr 2020/2021 rund 700 Anträge für konfessionell-kooperativen Religionsunterricht genehmigt.

Ethik für alle

Um die Haltung der Bevölkerung zum Religionsunterricht zu erfahren, hat der Bund für Geistesfreiheit Bayern eine GfK-Repräsentativ-Umfrage durchführen lassen, die zeigt, dass die Deutschen mehrheitlich für das Modell "Ethik für alle" votieren. "72 Prozent sind eine verfassungsändernde Mehrheit und ein klares Handlungssignal", kommentiert Ernst-Günther Krause, der Initiator der Studie, die Ergebnisse.

Öffentliche Schulen sollten geistige Schutzräume für Kinder sein, zu denen religiöse und nicht-religiöse Weltanschauungsgemeinschaften keinen Zugang haben. Ein gemeinsamer Ethikunterricht ab der ersten Klasse wird dem weltanschaulich neutralen Staat gerecht – so will es auch die überwältigende Mehrheit der Menschen in Deutschland. Die Landesregierung ist gefordert, die geänderten Realitäten zur Kenntnis zu nehmen und die betroffenen Landesgesetze zu ändern.

»Einfache Lösung: bekenntnisfreie staatliche Schulen; Ethikunterricht für alle«

Ethikunterricht an der Grundschule

Die Grundsatzentscheidung zur Einführung des Ethikunterrichts wurde in Baden-Württemberg 1976 getroffen. Die Regeleinführung des Ethikunterrichts – mit dem Status eines Ersatzfaches – erfolgte 1983. Mit dem Schuljahr 2018 begann die stufenweise Einführung des Ethikunterrichts für die Klassen 7-5, abwärts – zwei Jahre später als geplant. Seit dem Schuljahr 2021/22 ist das Fach Ethik in Baden-Württemberg für alle Klassenstufen ab Klasse 5 verbindlich. Seit dem Jahr 2011 ist die Einführung des Ethikunterrichts auch an der Grundschule in den Koalitionsverträgen der Landesregierungen (2011: Grüne-SPD; 2016 und 2021: Grüne-CDU) enthalten. Es mangelt offensichtlich am politischen Willen, den Ethikunterricht an Grundschulen einzuführen und man sollte den öffentlichen Druck erhöhen. Es ist äußerst problematisch, dass die Landesregierung unter Ministerpräsident Kretschmann die Einführung des Ethikunterrichts an der Grundschule auf die lange Bank schiebt und es bis jetzt keinerlei konkrete Pläne für die Einführung an der Grundschule gibt. Heute nehmen auch kirchenferne Kinder am RU an der Grundschule teil, damit sie "aufgehoben" sind. Nicht auszuschließen ist als Motivation für die Verzögerung bei der Einführung des Ethikunterrichts, dass der RU weniger nachgefragt werden könnte, wenn es Ethikunterricht für alle gibt, die nicht am RU teilnehmen.

Leider gibt es ein Urteil des Verwaltungsgerichts Freiburg aus dem Jahre 2011, das die Landesregierung möglicherweise als Freibrief betrachtet, den Ethikunterricht extrem zögerlich einzuführen. Die 2. Kammer des Verwaltungsgerichts hat mit dem Urteil vom 21.09.2011 - 2 K 638/10 - die Klage einer Mutter abgewiesen, mit der sie die Einführung von Ethikunterricht an der Grundschule erreichen wollte: Kein Anspruch auf Ethik-Unterricht in der Grundschule. Dieses Urteil wurde vom Verwaltungsgerichtshof und vom Bundesverwaltungsgericht bestätigt: Eltern können aufgrund von Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG nicht die Einrichtung bestimmter Schulfächer verlangen. Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 23. Januar 2013 wurde zurückgewiesen.

Wir wollen dies ändern, da das Urteil aus der Zeit gefallen ist und unseres Erachtens angesichts der Abwärts-Entwicklung bei der Anzahl der Kirchenmitglieder und der Anzahl christlich getauften Kinder nicht mehr akzeptabel ist. In Bayern schreibt die Landesverfassung seit 1946 vor, dass als Alternative zum Fach Religion Ethikunterricht anzubieten ist. Hiermit hat sie einen Impuls gesetzt, der von sämtlichen Bundesländern umgesetzt werden sollte. In Baden-Württemberg ist es überfällig, auch in den Jahrgangsstufen 1 bis 4 Ethikunterricht als Alternative zum Fach Religion einzuführen.

Staatliche Schulen müssen bekenntnisfrei/weltanschaulich neutral sein.

Befürworter des RU bringen zwar gern an, dieser sei durch das Grundgesetz als ordentliches Lehrfach geschützt, doch die wichtige Einschränkung des Art. 7 Abs 3 GG wird dabei in der Regel verschwiegen: "mit Ausnahme der bekenntnisfreien Schulen". Bekenntnisfreie öffentliche Schulen wurden als "weltliche" Schulen zu Beginn der Weimarer Republik im Jahr 1920 eingeführt. Hitler hat sie 1933 wieder abgeschafft. Mit welchem enormen Druck der Kirchen der Religionsunterricht 1948/49 Eingang in das Grundgesetz gefunden hat, kann man hier nachlesen: "Das Fach Ethik ist dem konfessionellen Religionsunterricht vorzuziehen - Wertevermittlung in der Schule". Die Väter des Grundgesetzes haben wie oben beschreiben, bekenntnisfreie Schulen vorgesehen, dies wurde aber bis jetzt in keinem Bundesland umgesetzt. Die öffentlichen Schulen werden heute noch durch die Landesverfassungen und Schulgesetze als "christlich" definiert. Leider ist der Bevölkerung nicht bewusst, dass alle staatliche Schulen in Deutschland "christliche Gemeinschaftsschulen" sind, Schulen die nicht frei von religiösen Bezügen und damit "nicht bekenntnisfrei" sind! Die religiösen Bezüge findet man in der Landesverfassung und im Schulgesetz, sie werden aber an den Schulen kaum sichtbar. Die Landesverfassung (LV) und das Schulgesetz enthalten zwar einige, alle Schulen betreffenden religiösen Bezüge (so bestimmt die LV beispielsweise in Artikel 12: "Die Jugend ist in Ehrfurcht vor Gott, im Geiste der christlichen Nächstenliebe, [...] zu erziehen", und im Schulgesetz wird das in interessanter Paraphrasierung so ausgeführt, dass die Schule insbesondere gehalten sei, die Schüler "in Verantwortung vor Gott" (es wird nicht ausgeführt, vor welchem Gott) sowie "im Geiste christlicher Nächstenliebe" zu erziehen sei. In Artikel 15 und 16 wird die Schulform "christliche Gemeinschaftsschule" festgelegt, "die Kinder auf der Grundlage christlicher und abendländischer Bildungs- und Kulturwerte erzieht". Auf Drängen der Kirchen wurde bei der Einführung der Gemeinschaftsschule im Schulgesetz zu § 8a Absatz 1 Schulgesetz angefügt: "Die Gemeinschaftsschule wird als christliche Gemeinschaftsschule nach den Grundsätzen der Artikel 15 und 16 der Landesverfassung geführt."

Aufklärung ist angebracht. Bekenntnisfreie Schulen sind nicht religionsfeindlich oder laizistisch, sondern weltanschaulich neutral, was heutzutage eine Selbstverständlichkeit sein sollte. Bekenntnisfreie Schulen entsprechen der weltanschaulichen Neutralität des Staates. Bekenntnis- oder Konfessionsschulen sind nach Art. 7 Abs.4 GG weiterhin möglich – und haben ihren Platz im Bereich privater/kirchlicher Träger.

»Bekenntnisfreie Schulen entsprechen der weltanschaulichen Neutralität des Staates«

Die Landesverfassung von Baden-Württemberg hat (in Art. 18) den Halbsatz aus dem Grundgesetz Art. 7 "mit Ausnahme der bekenntnisfreien Schulen" nicht übernommen; das ist ein Problem der Landesverfassung (Vorrang des Bundesrechtes), wäre aber kein Hinderungsgrund bei der Etablierung bekenntnisfreier Schulen. Wenn das Land BW die Schulen zu bekenntnisfreien Schulen erklären würde, könnten staatliche Lehrer die auch Religion unterrichten, umgeschult werden und Ethik- oder Religionskundeunterricht erteilen. Der gemeinsame Unterricht würde keine zusätzlichen Lehrerstellen erfordern, sondern zu Einsparungen führen. Der bekenntnisgebundene Religionsunterricht gemäß Artikel 7 des Grundgesetzes könnte als Wahlfach weiterbestehen; den auch kirchliche Lehrkräfte weiter erteilen könnten. Dass schon jetzt die Nachfrage nach ihm immer geringer wird, steht auf einem anderen Blatt.

Sonderfall islamischer Religionsunterricht

Der islamische RU wurde in BW im Jahr 2006 als Modell eingeführt. Zum Schuljahr 2020/21 gab es islamischen RU in Baden-Württemberg an 94 Schulen. Beim islamischen RU wird gegenüber der Presse die Akzeptanz betont, z. B.: "Stuttgarter Schulleiter verteidigen Islamunterricht", ohne jedoch zu thematisieren, dass dies von Muslimen1 als Bestätigung der Abgrenzung, als Anerkennung einer muslimischen Identität und als Sonderbehandlung der Muslime – die sich teilweise in einer Opferrolle wähnen – willkommen geheißen wird. Die Opferrolle ist identitätsstiftend und der islamische RU verstärkt den Rückzug auf eine religiöse, islamische Identität.

Die Akzeptanz des islamischen RU bestätigt in fataler Weise, dass der RU die Separation und nicht die Integration begünstigt.

  • Der islamische Religionsunterricht ist ein integrationshemmender Faktor, konstatiert Naïla Chikhi, Mitbegründerin des Vereins MigrantInnen für Säkularität und Mitbestimmung und unabhängige Referentin zu den Themen Integration & Frauenpolitik.
  • Ahmad Mansour schreibt in seinem Buch "Generation Allah": "konfessionsorientierter Religionsunterricht ist … meiner Überzeugung nach fatal. Warum teilt man die Kinder auf, so dass Katholiken in Klasse A, Protestanten in Klasse B, Muslime in Klasse C gehen? Was für ein Bild bekommen die Gruppen voneinander?" Die religiöse Identitätsbildung durch Separation sollte nicht staatlich gefördert werden.

Auf staatlicher Seite ergibt sich zudem ein Problem, wenn sich das Land als Religionsstifter betätigt. Das widerspricht der vom Grundgesetz geforderten staatlichen Neutralität – der Staat muss gottlos sein und alle Weltanschauungen gleichbehandeln. Die Stiftungslösung "Stiftung Sunnitischer Schulrat" als Trägerin des Islamischen Religionsunterrichts sunnitischer Prägung in Baden-Württemberg, die Anfang 2021 vom Land eingerichtet wurde, vermag die Probleme der Beiratskonstruktion im Ergebnis nicht zu beheben. Die Sonderkonstruktion des Beirats für den Islamunterricht führt zu rechtlichen Verwerfungen. Siehe Buch "Religionsunterricht oder Ethikunterricht? - Entstehung des Religionsunterrichts – Rechtsentwicklung und heutige Rechtslage – politischer Entscheidungsbedarf", Seite 171-173. Bei der Etablierung des islamischen RU "betätigt sich der Staat im Übermaß. Er stabilisiert den erodierenden konfessionellen Religionsunterricht dadurch, dass er aktiv tätig wird und ihn sogar ausweitet". "Wenn der säkulare Staat von sich aus Beiräte oder Stiftungen errichtet und er sie personell islamisch besetzt, unterläuft er die Trennung von Staat und Religion. Zudem greift er in die Religionsfreiheit und in die Selbstbestimmungsrechte von Muslimen ein". Professorin Susanne Schröter, Direktorin des Forschungszentrums Globaler Islam an der Goethe-Universität Frankfurt hält nichts vom Stiftungsmodell: "Der Sunnitische Schulrat hat gezeigt, dass er seine Macht missbraucht, um Theologen kaltzustellen, die einen modernen grundgesetzkonformen Islam vertreten. Er repräsentiert ein rückwärtsgewandtes undemokratisches Islamverständnis, das an staatlichen Schulen nichts zu suchen hat." (Quelle: Druckausgabe StZ 20.09.2022 "Kultusministerin Schopper verteidigt Islam-Unterricht"). Eine Wirkung des Schulrats wurde öffentlich sichtbar durch den erbitterten Streit zwischen dem prominenten liberalen Reformmuslim Abdel-Hakim Ourghi (Islamwissenschaftler, Philosoph und Religionspädagoge), der seit 2011 an der Pädagogischen Hochschule in Freiburg Lehrer für den islamischen Religionsunterricht ausbildet und dem Schulrat, der ihm die Lehrerlaubnis verwehrte. Eigentlich hatte man sich von liberalen Islamwissenschaftlern wie Abdel-Hakim Ourghi und Dr. Mouhanad Korchide eine wichtige Rolle beim Gelingen der Integration erhofft – die aber nicht eintreten kann, wenn von staatlicher Seite ausschließlich konservative Moscheevereine hofiert werden. Bedenklich ist die Islamisierung durch den islamischen RU auch deshalb, weil nur ca. 15 Prozent der als Muslime betrachteten Einwohner Mitglied in einem Moscheeverein sind – aber alle Kinder aus dem muslimischen Kulturraum dem sozialen Druck ausgesetzt werden, als "Muslime" den – eher konservativen als liberalen – islamischen RU zu besuchen. Das Land BW hat per Vertrag die beiden Verbände "Landesverband der Islamischen Kulturzentren Baden-Württemberg e. V. (LVIKZ)", und die "Islamische Gemeinschaft der Bosniaken in Deutschland - Zentralrat e.V. (IGBD)" als Träger für den Islamischen Religionsunterricht sunnitischer Prägung verpflichtet – mutmaßlich Verbände, die dem politischen Islam zuzuordnen sind. Laut verschiedenen Berichten vertritt das VIKZ ein ultrakonservatives Weltbild, bekennt sich formal jedoch zum Grundgesetz.

Verkehrte Welt: Eine staatliche Stuttgarter Schule hebt hervor, dass die meisten Schüler für den islamischen RU den Ethikunterricht verlassen haben – als wäre das eine wünschenswerte Entwicklung. Paradoxerweise gibt es in Stuttgart auch staatlich anerkannte private Schulen (Lessing-Schulen), deren Gründer nachgesagt wurde, Gülen nahezustehen. Diese Schulen werden überwiegend von türkischstämmigen Schülern besucht. Sie werben im Umkreis der Schule um weitere Schüler, indem sie betonen, dass es dort nur Ethikunterricht gibt – "wir haben uns bewusst gegen Islamunterricht entschieden", sie aber bei Bedarf auch ev. oder rk. RU einrichten würden (Quelle: "Wie im Hallschlag um Schüler geworben wird" – StZ Plus/Bezahlschranke).

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1 Der Begriff "Muslim" wird hier als Sammelbegriff verwendet für alle, die einen Migrationshintergrund haben oder aus sogenannten "muslimischen Herkunftsländern" stammen. Der Begriff ist eigentlich ungeeignet und irreführend, da mit "Muslim" Menschen zu bezeichnen sind, die Kinder muslimischer Eltern oder Angehörige des Islams sind. Man könnte auch die weder politisch korrekten noch zutreffenden Bezeichnungen: "Ausländer", "Gastarbeiter", "Migrant" oder (neutraler) "Mensch mit familiärer Einwanderungsgeschichte" verwenden. Viele Migranten aus muslimischen Herkunftsändern stören sich an der Zuordnung zu der Gruppenidentität "Muslim"; sie sehen sich als liberale oder säkulare Muslime, als "ex-Muslim" oder "Kulturmuslim" und möchten nicht als Muslim bezeichnet werden – genauso wie der Autor (Atheist) im Ausland nicht als Christ bezeichnet werden möchte, nur weil er aus einem angeblich christlichen Herkunftsland stammt.

Anlagen

Auszug aus: Seit 175 Jahren »Forderung des Volkes«
Kommentar: Bekenntnisfreie öffentliche Schulen

Es war der damalige Vorsitzende des Landeselternbeirats, Alois Graf von Waldburg-Zeil, den ich Anfang der siebziger Jahre in einer Sitzung dieses Gremiums sagen hörte, in der Schulpolitik brauche man Utopien, denn "ohne Utopie gibt es keinen Fortschritt".

An diese Worte muss ich denken, wenn ich überlege, was geschehen muss, um Baden-Württembergs öffentliche Schulen als "bekenntnisfrei" zu erklären. Denn mögen viele, die meisten Schulen in unserem Lande auch in den vergangenen Jahren längst in ihrer alltäglichen Praxis "säkular" geworden sein, so stehen dem doch formal die Bestimmungen der Landesverfassung entgegen. Und auch die auf dieser Verfassung beruhenden Vorschriften, unser Schulgesetz sowie all die anderen landesrechtlichen Bestimmungen postulieren formal eine Christlichkeit, die in der Realität und auch im Denken und Handeln eines Großteils der Bevölkerung, der Eltern und ihrer Kinder sowie der Lehrerschaft längst überholt ist.

Der Gedanke, unsere öffentlichen Schulen zu "bekenntnisfreien" Einrichtungen zu erklären, bedeutet in keiner Weise einen Angriff auf die Religion(en) im Allgemeinen oder das Christentum im Besonderen. Die im Grundgesetz garantierte Religionsfreiheit, also eine Religion zu praktizieren, sich zu ihr zu bekennen, sein Leben danach auszurichten (oder hiervon abzusehen), würde in keiner Weise geschmälert. Und auch die Religion(en), ihre Inhalte und ihre Geschichte, ihre Bedeutung für unsere Kultur und Gesellschaft wären weiterhin Gegenstand des Schulunterrichts (müssen es auch sein!) – und zwar gemeinsam für alle Schüler*innen, unbeschadet ihrer persönlichen Konfessionszugehörigkeit. Beendet würde lediglich (und endlich) die Tradition der konfessionellen Religionsverkündung in getrennten (und trennenden) schulischen Veranstaltungen sowie nach Bildungsplänen und von Lehrkräften, die nicht der Aufsicht des Staates unterliegen.

Das zu ändern, mag vielen als reine Utopie erscheinen. Und fürwahr: Dies nicht nur zu denken, sondern auch zu sagen oder gar zur politischen Forderung zu erheben, löst bei manchen Mitmenschen, auch in der Kolleg*innenschaft, Unmut oder Widerstand aus oder wird resignativ als "nicht durchsetzbar" bezeichnet. Jedoch, es gilt unverändert, "Ohne Utopie gibt es keinen Fortschritt". Setzen wir endlich um, was die "Freunde der Verfassung" vor genau 175 Jahren auf den Weg gebracht haben: "Den Unterricht scheide keine Confession"!

Quelle: KONFESSIONELLER RELIGIONSUNTERRICHT ODER ETHIK FÜR ALLE? - Seit 175 Jahren "Forderung des Volkes", Michael Rux, bildung & wissenschaft 11/2022, GEW Baden-Württemberg, Seite 38-39

Quellen, ergänzende Informationen:

hpd, 01.12.2022: Christliche Bekenntnisschulen passen nicht in die heutige Zeit

hpd, 15.05.2020: Hundert Jahre "weltliche Schule" und "Lebenskunde"

hpd, 27.11.2019: Kirchenrepublik-Alarm in Rheinland-Pfalz?

hpd, 02.05.2022: Die staatliche Bekenntnisschule – Wie Nordrhein-Westfalen an einem Anachronismus festhält - Veranstaltungsbericht

Deutschlandfunk, 22.01.2015: NRW: Umwandlung von Konfessionsschulen erleichtert

Kompaktinfo: "Staatliche Schulen müssen bekenntnisfrei sein" – Bekenntnisschulen

Kompaktinfo: "Schule für alle statt konfessionell geprägte Schule" – Christliche Gemeinschaftsschulen

hpd, 27.09.2022: gbs-Landesverband veranstaltete Eltern-Workshop "Ethik statt Reli"

YouTube: Videoaufzeichnung Workshop vom 24.1.2023: Ethik statt Religionsunterricht?

  • Informationen zum Ethikunterricht in Baden-Württemberg (Videoteil wird noch hinzugefügt)
  • Bundesweite Umfrage zum Ethikunterricht
  • Wie meldet man sich vom Religionsunterricht ab

Stuttgarter Zeitung, 15.05.2018: Ethikunterricht an Schulen – Nur im Schneckentempo

Stuttgarter Zeitung, 08.07.2013, Druckausgabe: Erstklässler – Ethikunterricht lässt auf sich warten

hpd, 16.05.2018: Ethikunterricht künftig ab Klasse 5 in Baden-Württemberg

hpd, 16.06.2023: Das Fach Ethik ist dem konfessionellen Religionsunterricht vorzuziehen - Wertevermittlung in der Schule

hpd, 19.05.2023: Ethik/Religionskunde: Besser gemeinsam!

hpd, 16.02.2023: Gemeinsamer Ethikunterricht für alle - Bund für Geistesfreiheit München fordert Modellversuch an Münchner Schulen

hpd, 02.02.2023: Humanistischer Pressedienst: Religionsunterricht isoliert, Ethikunterricht integriert

Arbeitskreis Ethikunterricht in Bayern